Die Novellen von Joseph Roth Triumph der Schönheit April - Die Geschichte einer Liebe Die Legende vom heiligen Trinker Stationschef Fallmerayer Die Büste des Kaisers Der Leviathan Ein Kapitel Revolution Der stumme Prophet Eine der bekanntesten und berührendsten Geschichten von Joseph Roth ist die "Legende vom heiligen Trinker", die von dem Pariser Stadtstreicher Andreas erzählt: ... »Wohin gehen Sie, Bruder?« - fragte der ältere wohlgekleidete Herr. Der andere sah ihn einen Augenblick an, dann sagte er: »Ich wüsste nicht, dass ich einen Bruder hätte, und ich weiß nicht, wo mich der Weg hinführt.« »Ich werde versuchen, Ihnen den Weg zu zeigen« - sagte der Herr. »Aber Sie sollen mir nicht böse sein, wenn ich Sie um einen ungewöhnlichen Gefallen bitte.« »Ich bin zu jedem Dienst bereit« - antwortete der Verwahrloste. »Ich sehe zwar, dass Sie manche Fehler haben. Aber Gott schickt Sie mir in den Weg. Gewiss brauchen Sie Geld, nehmen Sie mir diesen Satz nicht übel! Ich habe zu viel. Wollen Sie mir aufrichtig sagen, wie viel Sie brauchen? Wenigstens für den Augenblick?« Der andere dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte er: »Zwanzig Francs.« »Das ist gewiss zu wenig« - erwiderte der Herr. »Sie brauchen sicherlich zweihundert.« Der Verwahrloste trat einen Schritt zurück, und es sah aus, als ob er fallen sollte, aber er blieb dennoch aufrecht, wenn auch schwankend. Dann sagte er: »Gewiss sind mir zweihundert Francs lieber als zwanzig, aber ich bin ein Mann von Ehre. Sie scheinen mich zu verkennen. Ich kann das Geld, das Sie mir anbieten, nicht annehmen, und zwar aus folgenden Gründen: erstens, weil ich nicht die Freude habe, Sie zu kennen; zweitens, weil ich nicht weiß, wie und wann ich es Ihnen zurückgeben könnte; drittens, weil Sie auch nicht die Möglichkeit haben, mich zu mahnen. Denn ich habe keine Adresse. Ich wohne fast jeden Tag unter einer anderen Brücke dieses Flusses. Dennoch bin ich, wie ich schon einmal betont habe, ein Mann von Ehre, wenn auch ohne Adresse.« »Auch ich habe keine Adresse«, antwortete der Herr gesetzten Alters, »auch ich wohne jeden Tag unter einer anderen Brücke ...
Die Novellen von Joseph Roth Triumph der Schönheit April - Die Geschichte einer Liebe Die Legende vom heiligen Trinker Stationschef Fallmerayer Die Büste des Kaisers Der Leviathan Ein Kapitel Revolution Der stumme Prophet Eine der bekanntesten und berührendsten Geschichten von Joseph Roth ist die "Legende vom heiligen Trinker", die von dem Pariser Stadtstreicher Andreas erzählt: ... »Wohin gehen Sie, Bruder?« - fragte der ältere wohlgekleidete Herr. Der andere sah ihn einen Augenblick an, dann sagte er: »Ich wüsste nicht, dass ich einen Bruder hätte, und ich weiß nicht, wo mich der Weg hinführt.« »Ich werde versuchen, Ihnen den Weg zu zeigen« - sagte der Herr. »Aber Sie sollen mir nicht böse sein, wenn ich Sie um einen ungewöhnlichen Gefallen bitte.« »Ich bin zu jedem Dienst bereit« - antwortete der Verwahrloste. »Ich sehe zwar, dass Sie manche Fehler haben. Aber Gott schickt Sie mir in den Weg. Gewiss brauchen Sie Geld, nehmen Sie mir diesen Satz nicht übel! Ich habe zu viel. Wollen Sie mir aufrichtig sagen, wie viel Sie brauchen? Wenigstens für den Augenblick?« Der andere dachte ein paar Sekunden nach, dann sagte er: »Zwanzig Francs.« »Das ist gewiss zu wenig« - erwiderte der Herr. »Sie brauchen sicherlich zweihundert.« Der Verwahrloste trat einen Schritt zurück, und es sah aus, als ob er fallen sollte, aber er blieb dennoch aufrecht, wenn auch schwankend. Dann sagte er: »Gewiss sind mir zweihundert Francs lieber als zwanzig, aber ich bin ein Mann von Ehre. Sie scheinen mich zu verkennen. Ich kann das Geld, das Sie mir anbieten, nicht annehmen, und zwar aus folgenden Gründen: erstens, weil ich nicht die Freude habe, Sie zu kennen; zweitens, weil ich nicht weiß, wie und wann ich es Ihnen zurückgeben könnte; drittens, weil Sie auch nicht die Möglichkeit haben, mich zu mahnen. Denn ich habe keine Adresse. Ich wohne fast jeden Tag unter einer anderen Brücke dieses Flusses. Dennoch bin ich, wie ich schon einmal betont habe, ein Mann von Ehre, wenn auch ohne Adresse.« »Auch ich habe keine Adresse«, antwortete der Herr gesetzten Alters, »auch ich wohne jeden Tag unter einer anderen Brücke ...